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Mark Michalski (Hrsg.): Jenseits der Idylle - Sechs zeitgenössische Autoren

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2017-02-01 2017-04-24 01.02.2017

Cambridge, berühmte College-Stadt in England: Beim Besuch des Hauses, in dem einst Charles Darwin wohnte, entdeckt Tochter Dafni einen Fotoapparat, den vermutlich ein vorheriger Besucher verloren hat. Da es die Familie als aussichtslos ansieht, nach dem Besitzer zu suchen, erlaubt der Vater seiner Tochter mit den Worten „Behalt ihn! Er ist ein Wink des Schicksals“, den Fotoapparat mitzunehmen – nicht ahnend, dass dieser „kleine eckige Gegenstand“ ihm in der kommenden Nacht Alpträume bereiten wird.

„Der Fund“ heißt diese Erzählung des griechischen Prosaschriftstellers Christophoros Milionis (Jahrgang 1932) in dem jetzt im Kölner Romiosini-Verlag zweisprachig (deutsch-griechisch) erschienenen Erzählband „Jenseits der Idylle“. Diese lesenswerte Anthologie, die auch Erzählungen der Griechen Mitsos Alexandropulos (1924), Maro Duka (1947), Elias Ch. Papadimitrakopulos (1931), Dimitris Petsetidis (1940) und der Zypriotin Niki Marangou (1948) sowie als Nachwort von Milionis eine äußerst informative Einführung in die Nachkriegsprosa Griechenlands und Biographien der Autoren beinhaltet, ist das Ergebnis eines Workshops für literarische Übersetzung unter der Leitung von Mark Michalski an der Universität Athen.

„Jenseits der Idylle“ berücksichtigt sechs der „repräsentativsten gegenwärtigen Autoren griechischer Prosa, die erfolgreich die Gattung der Erzählung pflegen“, stellt die wissenschaftlich verantwortliche Leiterin der Abteilung für Übersetzung an der Universität Athen, Tatjana Milioni, in ihrem Vorwort fest. In der Tat, die insgesamt sieben Erzählungen - Papadimitrakopulos ist mit zwei Geschichten vertreten – gewähren mit den unterschiedlichsten Mitteln der Erzählkunst dem Leser Einblick in einige Facetten des heutigen Griechenlands und zeigen auch die Schatten hinter der Idylle: Die Menschen sind geprägt von den Erlebnissen und Ereignissen der vergangenen Jahrzehnte, die Themen reichen von ernsten Lebenslagen über philosophische Betrachtungsweisen bis hin zu heiteren und humorvollen Erlebnissen.

In einer eher ernsten Lage befindet sich plötzlich der Ich-Erzähler in der bereits eingangs erwähnten Erzählung „Der Fund“ von Milionis: In seinen nächtlichen Alpträumen in einem Londoner Hotel wird aus dem harmlosen Fotoapparat auf dem Nachttisch seiner Tochter eine Bombe, die beim nächsten Druck auf den Auslöser hochgehen wird: „Die schwärzesten Gedanken und, was noch schlimmer war, die schrecklichsten Bilder begannen vor meinem trüben Verstand, der eher schlecht als recht funktionierte, vorbeizuziehen.“ Die Bilder von weltweiten Bomben-Explosionen, die Milionis seinen Ich-Erzähler sehen lässt, kennt man aus Zeitungen und Fernsehen.

Wäre Cambridge mit seinen Studenten aus aller Welt nicht ein geeigneter Ort für ein solches Verbrechen: „Eine derartige Explosion im Herzen von Cambridge, in diesem Zentrum der Jugend der Welt, und zwar genau vor dem Haus Darwins – der die Bestie im Menschen entdeckte, was auch immer dies bedeuten konnte – würde sich wie ein Blitz über die ganze Welt verbreiten und dem Westen wie dem Osten einen Denkzettel verpassen“, schreibt Milionis. Wohin also mit dem Fund? In die Mülltonne stecken, zur Polizei bringen? Die Prostituierte Marina, der Buchhändler Vassilis und seine Tochter Sophia, die sich während der Besatzungszeit aus Liebeskummer an einem Johannisbrotbaum erhenkte, das Stadion, wo er unter den Sitzreihen seine erste Zigarette geraubt hat: Menschen und Orten seiner Kinder- und Jugendtage begegnet der Maler Stefanos in der 1976 geschriebenen Erzählung „Von fern der Klang einer Abendmusik“ von Maro Duka. An diesem Januartag, an dem Stefanos durch die Straßen und Gassen seiner Heimatstadt geht, vermischen sich in seinen Erinnerungen Realität und Fantasie. Die in Chania auf Kreta geborene und seit 1966 in Athen lebende Prosaschriftstellerin Maro Duka ist dem deutschen Leser unter anderem auch durch ihren
im Insel-Verlag erschienenen Roman „Die schwimmende Stadt“ bekannt, in dem sie von einer ausweglosen Geschichte zwischen einer jungen Frau und einem linken Intellektuellen erzählt, der verheiratet in Paris lebt.

An ihre Kindheit auf Zypern erinnert sich die Ich-Erzählerin in Niki Marangous „Mein Vetter Petros“, als sie Petros, zu dem sie seit der türkischen Invasion auf Zypern 1974 keinen Kontakt mehr hatte, zufällig am Athener Flughafen begegnet: abendliche Fahrten im offenen Jeep, nächtliche Strandausflüge und Kinobesuche, Spaziergänge mit dem Onkel, die in einem türkischen Café endeten. Nicht zu vergessen die Sonntage in der Kirche von Ai-Nikolas und „den Tanten, die nebeneinander auf den Kirchenstühlen saßen, und den gemeinsamen Mahlzeiten danach bei Tante Evangelia, deren Wohnzimmer mit Kupferwaren aus Ägypten geschmückt und immer etwas dunkel und kühl war, oder bei Tante Olympia, die Körbe mit Garnrollen und schöne Stickereien, Bilder und Flickenteppiche hatte, oder bei Tante Chrysanthi, die besonders beliebt war, denn der Onkel war Arzt und hatte unter der Treppe, zwischen Pflanzen und Katzen, ein Skelett und riesige anatomische Karten.“ Mit der Aufnahme der Zypriotin Niki Marangou in die vorliegende Anthologie solle, so Tatjana Milioni, die „Einheit der zypriotischen und griechischen Literatur“ demonstriert werden.

Mit kleinen grauen Pappkarten, die „mit Buchstaben und Zahlen bedruckt waren und an den Rändern zwei oder drei runde Löchlein hatten“ und seinem Besitzer erlaubten unter der Erde kreuz und quer durch New York zu fahren, und einem „seltsamen braunen Kasten aus Holz“ – er war länglich und hatte viele Knöpfe und eine dicke Nadel unter einer gläsernen Oberfläche, auf der schräg in fremden Großbuchstaben Namen großer Städte und Hauptstädte der Welt aufgedruckt waren“ – beeindruckt in Elias Ch. Papadimitrakopulos‘ Erzählung „Der Amerikaner“ ein 1937 zurückgekehrter Auswanderer die Bewohner seiner griechischen Heimat. Fahrkarten und ein Radio kannten diese damals noch nicht. In seiner zweiten Erzählung mit dem Titel „Der Matrose“ berichtet Papadimitrakopulos von einem Schülerstreich, der dank der schnellen Reaktion und der gelungenen Rezitation von Dionysios Solomos‘ „Hymne an die Freiheit“ ein mehr oder weniger gutes Ende für die Beteiligten findet.

Durchaus wörtlich ist der Titel von Dimitris Petsetidis‘ Erzählung „Sambates lebt“ zu nehmen, wenngleich dieser als Opfer eines Verrats gleich zu Beginn der Geschichte im Kugelhagel sein Leben aushaucht. Fortan geistert Sambates alias Vangelis Gevaras durch das Leben der Dorfbewohner: zeugt mit seiner großen Liebe Athina einen Sohn, bringt den Verräter dazu, Parolen an die Kirchenmauer zu schreiben, und lässt den Hauptmann, der seinen alten Vater gefangen nehmen will, per Wirbelwind verschwinden.

Angst, ausgenutzt zu werden, hat der Maler Samson, der Protagonist in der Erzählung „Zwei Porträts“ von Mitsos Alexandropulos. Nur vorübergehend öffnet er sich einem jungen Dichter, den er ebenso wie dessen Vater malt, um sich schließlich wieder ganz zurück in seine Einsamkeit zu ziehen: „Er dachte voll Bitterkeit daran, dass er ihm manches gebeichtet, was er sonst keinem erzählt hatte. Ihm taten die Bilder leid, die er ihm geschenkt hatte, und die Zweifel an seiner Aufrichtigkeit verstärkten sich. ,Sollte es sich vielleicht um einen Gauner handeln?‘ fragte er sich. Und ein solcher Gedanke brauchte ihm nur durch den Kopf zu gehen, um sogleich all die anderen Gedanken hervorzurufen: ,Dann werde ich hereinfallen wie noch nie in meinem Leben!‘.“ Das Porträt des jungen Mannes wird unvollendet bleiben – „wie so viele andere, wenn nicht alle. Es gibt jedoch Sachen, die der Künstler nicht vollendet hat, und andere, die selbst von sich aus sich nicht vollendet haben, das ist ein Unterschied“ – und kann schließlich doch als Meisterwerk in einem Museum bewundert werden.

Mark Michalski (Herausgeber): Jenseits der Idylle.
Sechs griechische Erzähler. Griechischer Prosa.

Griechisch-deutsch. Mit einem Nachwort von Christophoros Milionis.
Romiosini Verlag Köln. 214 Seiten.